Es folgt eine Geschichte über den Zauber des Lebens. Über die Schönheit der Stille. Über den Sinn und das Sein. Über Freude und Glück.
Die kleine Eisblume
Es war einmal eine kleine Eisblume. Sie lebte inmitten unzähliger anderer Eisblumen auf einem großen alten Baumstamm. Und obwohl so viele Eisblumen um sie herumsaßen, fühlte sich die kleine Eisblume einsam. Sie war sehr unglücklich darüber, wer sie war und weinte unendlich viele glitzernde Kristalltränen.
Sie sah, dass die anderen Eisblumen ungläubig ihre kalten Köpfchen schüttelten. Niemand konnte sie verstehen. Die Tage und Nächte wurden kälter und für die kleine einsame Eisblume immer länger. Ein paar Tage für uns sind in der Welt der Eisblumen viele Jahre! Die klirrende Kälte brachte die Eiskristalle zum Wachsen und sie streckten ihre eisigen Händchen nacheinander aus.
Doch selbst in dem Meer ihrer engumschlungenen Eisblumenfamilie sah die kleine Eisblume noch immer ganz schrecklich traurig und verloren aus.
Eines Nachts, als alle anderen tief und fest schliefen, schluchzte die kleine Eisblume wieder leise vor sich hin. Sie war so sehr in ihrem Kummer gefangen, dass sie gar nicht bemerkte, wie wunderschön alles um sie herum im Mondlicht glitzerte. Die tausend Lichter und Farben der Eisblumen funkelten durch die finstere Nacht und machten die Welt ganz bunt. Alles sah verzaubert aus.
Und während sie so da saß und weinte, hörte sie plötzlich eine sanfte Stimme, die der Wind vorbeitrug: „Warum weinst du denn, meine kleine Eisblume? Was macht dich so unglücklich?“
Die kleine Eisblume hielt erstaunt inne. War das Gott, der zu ihr sprach? Dann antwortete sie verzweifelt: „Ich will keine Eisblume sein. Und ich verstehe einfach nicht, warum ich eine geworden bin. Für immer sitze ich auf diesem Baumstamm fest. Dabei möchte ich die Welt verändern und etwas in Bewegung bringen. Stattdessen fühle ich mich ausgegrenzt, bin klein und bedeutungslos!“ Ihre Traurigkeit verwandelte sich in Wut und ihr kristallenes Kleid begann heller zu leuchten.
„Wer behauptet, dass du bedeutungslos bist?“, fragte die freundliche Stimme.
„Ich behaupte das. Ich sitze hier rum und kann nichts tun! Rein gar nichts.“
„Bist du dir da ganz sicher?“
Die Eisblume stutzte. Dann flüsterte sie: „Wenn Du weißt, was ich tun kann, sag es mir bitte. Ich habe nämlich nicht die geringste Ahnung.“
„Erst einmal solltest du wissen, dass du bist, wer und wie du bist, weil du genauso sein sollst. Eine wunderschöne kleine Eisblume. Ich mache keine Fehler und alles, was ich tue, ist kein Zufall. Das gilt für alle Wesen im Universum. Jedes einzelne ist perfekt und von unschätzbarem Wert.“
„Aber Du bist Gott, nicht wahr? Du erwartest doch sicher von mir, dass ich eine bestimmte Aufgabe erfülle. Und … irgendetwas Sinnvolles tue! Schließlich bin ich ein Teil von Dir.“
„Der Sinn liegt darin, dass du existierst. Dass du BIST. Dass du die Nacht mit deinem Leuchten heller machst. Du musst gar nichts weiter tun, als zu sein. Und zu spüren wie sich das anfühlt.“
Die kleine Eisblume nahm die Worte in sich auf. Als sie begriff, was Gott da sagte, fiel ihr ein großer Stein vom Herzen. Sie atmete erleichtert auf. „Es ist okay, dass ich so bin, wie ich bin? Dass ich gar nichts tue, um die Welt zu verändern?“
„Du bist vollkommen, genauso wie du bist“, versicherte Gott. „Dass du aber gar nichts tust, um etwas in Bewegung zu bringen, stimmt nicht.“
Die kleine Eisblume hörte das Lächeln Gottes. Sie war plötzlich ganz ruhig und voller Frieden. Auch wenn sie nicht verstand, was er meinte.
„Warte noch eine Weile. Dann wirst du es verstehen“, sagte Gott aufmunternd. „Ich wünsche mir etwas für dich, meine kleine Eisblume.“
„Was wünschst du dir denn für mich?“ Die kleine Eisblume hauchte ihre Frage gespannt in einer zarten Atemwolke in die Nacht hinaus.
„Ich wünsche dir Freude“, erwiderte Gott.
„Unendlich viel Freude darüber, dass du da bist. Darüber, dass du sehen kannst, wie du und deine Freunde um die Wette funkeln. Darüber, wie sich das Licht verändert und keine Sekunde so ist, wie diejenige, die ihr vorausgegangen ist. Darüber, dass der Wind sich dreht und die Sonne neues Leben entstehen lässt. Es gibt so viele Dinge, über die du dich freuen kannst. Sieh dich nur um. Dazu musst du nichts weiter tun als hier zu sein. Jeden Moment aufs Neue. Und dann, eines Tages, wird sich etwas in deinem Leben verändern …“
Die kleine Eisblume verstand plötzlich viel mehr und spürte, wie sie bereits von dieser unendlichen Freude erfüllt wurde, die keinen Grund brauchte, um da zu sein.
Und wie Gott gesagt hatte, veränderte sich das Leben der kleinen Eisblume.
Sie saß lächelnd inmitten der anderen Eisblumen und bestaunte die Wunder um sich herum.
Das sanfte Schaukeln der kahlen Äste ihres alten Baumes zum Beispiel. Den Schnee, der sich in leisen Flocken auf die gefrorene Erde legte. Die beruhigende Stille, die alles sagte, was es zu sagen gab. Die kleine Kohlmeise, die sich neben ihnen niederließ, den Kopf schief legte und vom Frühling erzählte. Das Knirschen der warmen Winterschuhe vorbeigehender Spaziergänger. Der See, der knackend von größer und stärker werdenden Eisschichten durchzogen wurde und das in ihm liegende Spiegelbild der in Spätnachmittagslicht getauchten Häuser. Das Tropfen der Eiszapfen am Baum gegenüber. Und das sich ständige verändernde Licht. Das Licht, das alles in Magie verwandelte.
Voller Freude streckte die Eisblume nun auch die Hände nach ihren Freunden aus und wurde liebevoll und dankbar in ihren Kreis aufgenommen.
Plötzlich war es nicht mehr schwer für die kleine Eisblume, eine Eisblume zu sein. Im Gegenteil: Sie liebte es! Und sie fürchtete sich nicht vor dem, was vor ihr lag und was sie bereits spüren konnte. Denn das, was kam, spielte jetzt noch keine Rolle.
Und eines schönen Tages, es war bereits wärmer geworden im verzauberten Winterwald und die Schneedecke begann langsam zu schmilzen, da stand die Sonne in einem ganz besonderen Winkel und richtete ihre sanften Strahlen auf die Eisblumen.
Die kleine Eisblume und ihre Freunde reckten ihre Köpfchen nach oben und plötzlich wurde es ihnen ganz warm ums Herz. Da war Liebe überall.
„Die Veränderung kommt von ganz allein“, stellte die Eisblume lächelnd fest.
Und dann verwandelten sie sich in zart glitzernde Tautropfen, die das Licht der Sonne in allen Farbfacetten widerspiegelten. Der Wald war in warmes Gold getaucht, als sie den Baumstamm hinunter liefen und schließlich ganz leise, fröhlich kichernd in die Erde absickerten und sich auf ihren Weg machten.
Sie waren für immer Teil des großen Ganzen. Schon immer gewesen.
Bereit, neues Leben und neue Freude entstehen zu lassen.
Geschichte: Sarah Ollrog
Foto im Header: Pixabay
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So schön 🙂
Oh, danke schön, liebe Bianca! <3