Romanauszug:
Lilly stand dicht an der Kante des Dachvorsprungs und schaute hinunter in die Tiefe. Dabei wurde ihr ganz schwindelig, denn es war wirklich schrecklich hoch. Doch gefiel ihr dieses schwindelerregende Gefühl. Nervenkitzel. Leben. Wie lange würde so ein Fall von hier oben aus dauern? Der Wolkenkratzer war sicher mehr als dreißig Stockwerke hoch. Fliegen mit Schmetterlingen im Bauch. Wie beim Achterbahnfahren. Nur, dass man irgendwann aufprallte und dann alles vorbei wäre.
Dann hätte die Angst keinen Grund mehr nach ihr zu greifen.
Warum war sie wohl in New York gelandet?
Was das Unterbewusstsein alles bewerkstelligen konnte! Sie musste nicht mehrere tausend Kilometer weit fliegen. Ihre Seele konnte einfach herkommen und alles live und in Farbe erleben. Der Ausblick war gigantisch, atemberaubend, faszinierend. Wie immer fühlte sich alles unglaublich real an. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie gerade wirklich hier war. Sie spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Roch die Abgase der Kraftfahrzeuge und PKWs, die zu ihr heraufstiegen. Dazu mischte sich der frische Atem New Yorks grüner Lunge, die sie weiter hinten in Form des Central Park erkennen konnte.
Wenn ich jetzt springen würde, hätte ich den Central Park nur von weitem gesehen. Ich wäre niemals in ihm spazieren gegangen. Hätte niemals erfahren, ob es dort wirklich so schön ist, wie in all den Filmen gezeigt wird. Wieder drückte der altbekannte Kloß in ihrem Hals. Sie wusste woher der kam. Er war Ausdruck ihrer tiefen Sehnsucht nach Leben. Nach Liebe. Nach Glückseligkeit. Nach Leidenschaft. Sehnsucht nach wildem Herzklopfen, verursacht durch Freude und Lebenshunger. Sehnsucht nach Schmetterlingen und Sommerregen und Blumenduft und Frühlingsfarben, nach Badeseen und dem Geschmack von Himbeereis im Stadtcafé. Nach Tautropfen auf morgendlichen Frühlingswiesen, ganz kühl unter den nackten Fußsohlen. Nach Freiheit. Nach Menschen. Nach der Welt außerhalb des Angstkäfigs. Nein, sie wollte nicht sterben. Hatte sie den Tod vor Augen, spürte sie, wie sehr sie doch am Leben hing. Spürte die unsichtbaren, heiligen Bande, welche die Angst stets zu trennen versuchte.
Also stand sie jetzt hier. Im Angesicht des Todes – wenn auch nur im Traum. Hier konnte man ja so einen Selbstmord mal ausprobieren. Sterben würde sie daran bestimmt nicht. Höchstens vor Schreck aufwachen, wenn sie auf dem Asphalt aufkam. Hoffentlich.
Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Unter ihr Verkehrschaos. Kleine Spielzeugautos, die sich langsam vorwärts kämpften. Menschen mit Köpfen kleiner als Stecknadeln krabbelten wie Ameisen umher. Überquerten Kreuzungen, Straßen, manche stiegen schnell in Taxen ein, die auf Grün warteten. Der hupende Lärm klang weit weg. Hier oben war es beruhigend still.
Stille oder Chaos?
Sie breitete die Arme aus und blickte nach oben in den blauen Himmel. Das fühlte sich fast wie Fliegen an. Ein Vogelschwarm flog demonstrativ über sie hinweg. Wind kam auf und wehte ihr die feuerroten Haare ins Gesicht. Sie nahm einen tiefen Atemzug.
Ja, es war gut hier oben.
Foto: Pixabay
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